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Flucht aus Brabak


Die Luft stand fast still an jenem schwülen Abend im Brabaker Hafenviertel. Die wenigen noch arbeitenden Seeleute entluden ihre Kähne im Zeitlupentempo. Die Bürger der Oberschicht hatten sich in ihre kühlen Villen zurückgezogen, und die meisten Bewohner der Hafengegend versuchten, sich mit einem kühlen Bier das Leben erträglicher zu machen.
Thorwald Syrek, der Wirt der "Seeschlange", mochte solche Abende nicht. Zwar war der Schankraum voll, und der Zapfhahn lief unentwegt, doch das Wetter machte die Menschen reizbar, und einige von Thorwalds Stammkunden ließen es bei einem Streit selten mit bösen Worten bewenden. Thorwald Syrek hatte ein ungutes Gefühl. Saria Omsk, die dralle Kellnerin der Schenke, spürte davon nichts. Sie genoss das geschäftige Treiben und schwelgte in den grölenden Lobpreisungen ihres Körperbaus, die die betrunkenen Seeleute ihr entgegenbrachten, wenn sie mit zehn Bierkrügen in ihren kräftigen Händen am Tisch erschien.
Etwas ruhiger ging es am Nachbartisch zu, an dem zwei Männer sich angeregt unterhielten. "Ihr könnt mir glauben, mein Herr, es liegen wirklich unermessliche Schätze dort", beteuerte gerade der junge, blonde Bursche. Saria kannte ihn, es war Yann, ein abenteuerlustiger Kerl, der sie immer wieder mit seinen phantastischen Erzählungen erstaunte. "Aber warum hat nicht schon längst jemand diese wertvollen Güter geborgen?" fragte Yanns Gesprächspartner, ein untersetzter bärtiger Mann mit bornländischem Akzent. "Ich habe Euch doch gesagt, dass es sich bei diesem Transport um ein höchst geheime - und dazu nicht besonders legale - Aktion gehandelt hat", erklärte Yann, "die Verantwortlichen würden ihr Gesicht, und vielleicht nicht nur das, verlieren, wenn die Sache ans Licht käme. Natürlich planen sie auch im geheimen eine Bergungsmission, deshalb müssen wir uns ja so beeilen." "Da habt Ihr natürlich recht, mein Herr. Was schlagt Ihr vor?" "Ich finde, wir sollten schon morgen aufbrechen. Wenn Ihr mir die Dukaten für die 'Ausrüstung' gebt, kann ich das Zeug bis morgen früh organisieren. Ihr geht kein Risiko ein, denn mich wird man mit dem Stoff nicht erwischen. Ihr wisst, welche Strafe auf den Besitz illegaler Gifte steht?" Yann formte mit den Händen eine symbolische Schlinge um seinen Hals. Der Bornländer erschauderte. "Und als Pfand lasse ich Euch sogar noch die Karte hier." Er schob ihm unauffällig ein zusammengerolltes Pergament zu. "Also, wir sehen uns morgen eine Stunde vor Sonnenaufgang an der letzten Lagerhalle." Mit einem verschwörerischen Grinsen steckte der Mann die Karte ein und reichte Yann unter dem Tisch ein prall gefülltes Geldbeutelchen. Der junge Mann stand auf und wandte sich zur Tür. "Die Zwölfe mit Euch, und danke für das Bier!"
Als Yann die Taverne verließ, lief er einer Patrouille von drei Stadtgardisten in die Arme. "Einen schönen Abend wünsche ich Euch", sagte er hastig und wollte weitergehen, als einer der drei Männer seine Hellebarde ausstreckte und ausrief: "Moment mal. Seid Ihr nicht Yann Anjuhal?" "Nein, der sitzt immer noch dort drin und trinkt, es gibt nämlich Freibier!" entgegnete Yann schnell, und als die Gardisten einen Moment stutzten und an ein kühles Bier dachten, war er schon um die nächste Ecke verschwunden. "Haltet den Mörder!" schrien die überrumpelten Gardisten und nahmen die Verfolgung auf.
Yann hetzte so schnell er konnte durch die dunklen Gassen, doch die Gardisten bekamen Verstärkung aus der anderen Richtung. Auf der Suche nach einem Ausweg fiel ihm ein offenes Fenster auf, ein schlanker, junger Mann kletterte gerade heraus, und die hübsche Frau mit den langen blonden Haaren im Fenster verabschiedete sich innig, aber hastig von ihrem Liebhaber. Yann nutzte die Gelegenheit, schwang sich unter den ungläubigen Blicken des Liebespaares zum Fenster hinein in das Schlafzimmer und war mit wenigen Schritten schon wieder zur Tür hinaus. Im Hausflur rannte er fast den anscheinend gerade heimkommenden Ehemann um. "Ihr habt eine überaus bezaubernde Gattin", hörte dieser noch, dann war der ungeladene Gast schon wieder verschwunden.
Im Hof des Hauses hangelte Yann sich an einer Regenrinne hoch aufs Dach und gelangte springend einige Häuser weiter zu einem Kamin. Die verfallene Hütte darunter benutzte die Gilde schon seit längerem als provisorischen Unterschlupf, wenn jemandem die Verfolger doch zu aufdringlich wurden. An der Strickleiter im Inneren des Kamins kletterte Yann in die Hütte hinab. Dort würde er etwas Ruhe vor den Gardisten haben.
"Ich wusste, dass du hierhin kommst, Yann Anjuhal", erklang plötzlich eine unfreundliche Stimme aus dem Dunkel des Raumes. Jemand entzündete eine Öllampe, und Yann blickte in das grimmige Gesicht seines Rivalen Hagen ter Rhor. Begleitet von zwei ebenso böse blickenden Handlangern stand der große und kräftige Mann mit erhobenem Rapier vor Yann. "Du hast mich bei der Garde verpfiffen", fuhr Yann ihn an, "das ist gegen den Kodex!" "Ich brauche niemanden zu verpfeifen", Hagen grinste breit, "wer beim Paten in Ungnade gefallen ist, hat ohnehin nicht mehr lange zu leben." Yann ahnte Übles. "Das du kein Ehrgefühl hast, wusste ich ja schon lange. Aber dass ein Glücksritter wegen einer Frau feige Intrigen spinnt, enttäuscht mich schon sehr. Wenn du ein Mann bist, dann lass es uns wie zwei Männer austragen. Hier und jetzt. Oder machst du dir ohne deine zwei Ammen ins Hemd?" "In Ordnung", brummte Hagen, "auf diesen Moment habe ich mich schon lange gefreut. Lass uns allein!" wies er seine Begleiter an. Das leichte Zucken in seinen Augen entging Yann nicht, er musste auf alles gefasst sein.
Er zog seinen Rapier. "Also gut." Die Klingen zischten durch die Luft, klirrten ein paarmal schnell aufeinander. Hagen war ein exzellenter Fechter, aber auch Yann hatte den Umgang mit der Waffe gelernt. Das Leben auf der Straße macht hart. "Das ist für Celia", schnaubte Hagen, als er seinen Gegner mit ein paar kräftigen Hieben in die Ecke drängte. Im letzten Moment konnte Yann einem weit ausholenden Schlag ausweichen, duckte sich weg und ging seinerseits in die Offensive. "Und das ist ebenfalls für Celia", entgegnete er Hagen mit einem frechen Grinsen.
Es ist schon erstaunlich, wozu eine hübsche Frau zwei Männer bringen kann, dachte er. Hagen hatte ihn nie gemocht, doch als seine Geliebte Celia ihn wegen Yann verließ, wurde aus dieser Abneigung blinder Hass. Er kam sich betrogen vor, doch er sah auch seinen Einfluss beim Paten schwinden. Celia war die Nichte des 'einflussreichsten Geschäftsmannes in Brabak', wie sich der Pate gern selbst nannte, und Hagen hatte sich trotz seiner aufbrausenden Art zu einem seiner engsten Vasallen hochgearbeitet. Und seinen Einfluss nutzte er nun aus, um Yann ins falsche Licht zu rücken. Verfolgt von der Stadtwache und seiner eigenen Diebesgilde, das war nicht fair. Aber was ist im Leben schon fair? Jedenfalls auch nicht, dass Waisenjunge von einem kleinen Gehöft am Rande des Regenwaldes der rechten Hand des Paten die Geliebte ausspannt. Bei diesem Gedanken musste Yann trotz der brenzligen Situation, in der er sich befand, zufrieden lächeln.
Hagen deutete diese Miene falsch. "Machst du dich jetzt auch noch über meine Fechtkünste lustig?" brüllte Hagen mit hochrotem Kopf und stürmte auf ihn ein. Yann nutzte die Unaufmerksamkeit seines Gegners durch diesen Wutausbruch, dreht sich zur Seite weg und stellte ihm ein Bein. Hagen stürzte zu Boden, und Yann setzte ihm die Rapierspitze zwischen die Rippen. "Eins zu null für mich würde ich sagen, Hagen", schmunzelte er, "und nun würde ich gerne wissen, was du der Garde erzählt hast? Mit Mord hatte ich noch nie zu tun!"
Er hörte das Geräusch einen Moment zu spät. Obwohl er sich sofort zu Boden fallen ließ, traf ihn der kleine Armbrustbolzen in den linken Oberarm. Hagen war sofort mit seiner Waffe über ihm und bemerkte hämisch: "Dann steht es jetzt aber eins zu eins, und leider folgt nun für dich der Schlusspfiff." Er wollte gerade zustechen, als Yann ihm blitzschnell eine Handvoll Sand von Boden in die Augen schleuderte. Hagen schrie auf vor Schmerzen und schlug die Hände vor's Gesicht, und Yann nutzte die Gelegenheit um aufzuspringen und seinen Gegner mit einem gezielten Tritt zu Boden zu befördern. Während die Spießgesellen seines Gegners zur Tür hereinstürmten, hob Yann noch schnell seinen Rapier auf und floh durch ein Fenster nach draußen. Im Weglaufen rief er Hagen noch zu: "Also gut, heute ein Unentschieden. Dann fällt die Entscheidung beim Rückspiel. In meinem Stadion."
Während Hagen noch seine Helfer anschrie, warum sie Yann nicht getötet hätten, entkam dieser für's erste den Ganoven. Durch die engen und verwinkelten Gässchen gelangte er unbehelligt zu Meister Alberions Haus, wo er in den letzten Monaten gewohnt hatte. Der Krämer hatte geheime Kontakte zur Diebesgilde und verkaufte häufig die 'verlorengegangenen' Besitztümer reicher Brabaker und Reisender. Der kinderlose Mann hatte Yann ins Herz geschlossen und bei sich aufgenommen, dieser half dem Kaufmann dafür bei zahlreichen legalen und nicht ganz legalen Aktivitäten.
Sicherheitshalber schlich Yann mit ins Gesicht gezogener Kapuze um das Haus herum und lauschte den Gesprächen der Schaulustigen, die den Bütteln bei der 'Spurensuche' beobachteten. Die Gardisten gaben sich allerdings nicht sehr viel Mühe, sondern versuchten, die Menge mit ihren bösen Blicken und Waffen zu beeindrucken. Was Yann hören musste, ließ ihn die Hände verbissen zu Fäusten ballen. Meister Alberion war hinterrücks erstochen worden, und der Hauptverdächtige sei ein gewisser Yann Anjuhal, der in dem Haus gewohnt habe und plötzlich verschwunden sei. Plötzlich hörte Yann hinter sich ein leises Fiepen. Erschrocken drehte er sich um, doch entdeckte nur ein kleines Zirkusäffchen. "Ach, Nikita, dich hab ich in der Aufregung fast vergessen", sagte er leise zu seinem Haustier, "es sieht so aus, als ob wir umziehen müssten."
Er nahm das Äffchen auf die Schulter und verschwand schleunigst aus der Nähe des Tatorts, um in Ruhe seine Lage zu überdenken. Verfolgt von der Stadtwache und Hagens Handlangern, vielleicht sogar von den Leuten des Paten blieb ihm nichts anderes übrig, als Brabak zu verlassen, am besten auf einem Schiff. Doch diese wurden sicher überwacht, also musste Yann sich etwas einfallen lassen.
Saria hatte sich gerade in ihr Bett gelegt, als es an der Scheibe klopfte. Als sie öffnete, kletterte Yann schnell in ihr Zimmer und bedeutete ihr, still zu sein. "Saria, ich brauche Deine Hilfe. Ich werde von den Gardisten verfolgt, für ein Verbrechen, das ich nicht begangen habe. Kannst du mir etwas anderes zum Anziehen besorgen, am besten etwas unauffälliges." "Aber Yann, was..." "Bitte beeil' dich, ich muss schnell weg!" Saria nickte und schlich ins Haus, um nach kurzer Zeit mit einer grauen Arbeitshose und einer Jacke mit Kapuze wiederzukommen. "Perfekt, du bist ein Schatz, Saria! Danke!" Yann gab ihr einen Kuss auf den Mund und war im nächsten Moment schon aus dem Fenster. Saria fühlte ihn immer noch auf ihren Lippen und wünschte ihm viel Glück, sie würde ihn mit Sicherheit vermissen.
In einem leerstehenden Schuppen zog sich Yann die Arbeitskleidung an und mit dem Gesicht im Schatten der Kaputze machte er sich möglichst unauffällig auf den Weg zum Hafen. Als er ein großes Handelsschiff mit Neureichischer Flagge (schließlich wollte Yann ja nicht vom Regen in die Traufe gelangen und womöglich noch nach Al'Anfa fahren) am Kai sah, das gerade beladen wurde, reihte er sich unauffällig in die lange Schlange der Packer ein, die Kisten und Säcke auf die Karacke trugen. Sein Äffchen Nikita suchte sich derweil selbst einen Weg auf den Kahn, was ihm nicht sehr schwerfiel. Im Laderaum tat er erschöpft und hockte sich zwischen die Kisten, um in einem unbeobachteten Moment dahinter zu verschwinden. Glücklicherweise entdeckte er dort eine schmale Luke zum Kielraum, wo er es sich auf dem zwar etwas feuchten, aber weichen Sand einigermaßen bequem machte und so den Blicken des Zahlmeisters entging, der vor dem Ablegen noch einmal kurz den Laderaum nach ungebetenen Gästen durchsuchte. "Tut mir leid, dass ich dir nur eine Passage in der 3. Klasse bieten kann", sagte er zu seinem Äffchen, das ihn nach einiger Zeit gefunden hatte, "aber immerhin kommen wir so ins Neue Reich. Und wie es aussieht, transportiert dieser Kahn einen Haufen Lebensmittel. Also um Dein Frühstück brauchst du dir keine Sorgen zu machen." Erschöpft legte sich Yann zurück in den Sand, um nach all der Aufregung einmal richtig auszuschlafen. Die Karacke segelte derweil bei günstigem Wind über das Meer der Sieben Winde gen Havena.